Gedenkveranstaltung im Michel am 27.1.2023 für die Opfer des Nationalsozialismus

Gedenkveranstaltung im Michel am 27.1.2023 für die Opfer des Nationalsozialismus

Gestern Abend in der Hamburger Michaelis-Kirche (Hamburger Michel).

Hauptpastor Alexander Röder begrüßte die ca. 150 Gäste.

Sabine Witt hielt eine Ansprache (s. weiter unten) und Gino Leineweber las zu Ehren von Ralph Giordano, der in diesem Jahr (im März) 100 Jahre alt geworden wäre, und zu seinem Andenken an eine Lesung, die er selbst in unserer Veranstaltungsreihe zu seinen Lebzeiten hier im Michel gehalten hatte,  aus seinem Roman „Die Bertinis“.

 

 

Ansprache Sabine Witt Michel 27.1.2023

Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie im Namen der Hamburger Autorenvereinigung.

Vor genau einem Jahr kamen wir hier im Michel zusammen, um nach zwei Jahren coronabedingter Pause den Opfern des Nationalsozialismus zu gedenken. Froh waren wir, dass die Pandemie halbwegs überwunden schien, wir uns wieder treffen konnten. Schnell jedoch schlug die neu aufkeimende Hoffnung, ja Sorglosigkeit in blankes Entsetzen um: Krieg, Krieg in Europa! Ich kann mich erinnern, dass ich in der Pandemie mehrfach sagte: „Alles ist ganz fürchterlich. Aber Hauptsache, kein Krieg!“ Was für mich der schlimmste denkbare Albtraum ist, das Schlimmste, was Menschen erleben können. Und nun war und ist er da, in unserem Europa. Mit unendlichem Leid, unvorstellbarer Grausamkeit, unbeschreiblicher Menschenverachtung. So wie er seinerzeit von Deutschland ausging, das von einem Land der Kultur zu einem der Barbarei wurde, zu einem Land, aus dem viele vor der Verfolgung, vor dem Terror der Nationalsozialisten, vor dem Kriege flüchten mussten. Starben. Ihnen gedenken wir heute, aber auch jenen, die im Ukraine-Krieg leiden – sei es auf ukrainischer, sei es auf russischer Seite.

Denn auch die jungen, oft völlig unvorbereitet in den Krieg ziehenden Soldaten sind Opfer. Ich möchte an dieser Stelle erinnern an all die jungen Männer, die Jungs, die halben Kinder, die auch in Deutschland gegen Kriegsende als „Kanonenfutter“ noch eingezogen wurden. Auch mein Vater, über den ich stellvertretend berichten möchte.

Mein Vater wurde gegen Ende des Zweiten Weltkrieges als 16-Jähriger eingezogen. Es gibt Fotos von ihm, die das Kindergesicht unter Stahlhelm zeigen. Er kam zur Flak – zu den Flugabwehrkanonen. Dass er bis einen Tag vor seinem Tod im Jahre 2003, immer noch schwer traumatisiert, davon überhaupt berichten konnte, dass ich heute davon berichten kann, ist einem Zufall zu verdanken. Dem Buchstaben W. W wie Witt, mein Familienname.

Mein Vater bekam irgendwann nach seinem Einzug Heimaturlaub. Und mit ihm weitere junge Soldaten seiner Kompanie. Der Vorgesetzte notierte alle Namen auf einer Liste. Alphabetisch. Für den Namen „Witt“, ziemlich am Ende des Alphabets stehend, war auf dem Zettel kein Platz mehr. So wendete der Vorgesetzte das Blatt Papier und schrieb den Namen meines Vaters als einzigen auf die Rückseite. Dort wurde er vergessen. Nie hat offenbar je wieder jemand den Zettel umgedreht. Nie kam der Befehl, wieder an die Front zu ziehen. Mein Vater hatte das mit dem Zettel gesehen und versteckte sich in den letzten Kriegsmonaten im Keller des ausgebombten Elternhauses. Und überlebte. Fast alle jungen Männer, deren Namen auf der Vorderseite des Zettels standen, sind gefallen. Das hat mein Vater in späteren Jahren recherchiert.

Sich verstecken, um zu überleben. Das ist auch das Thema der Lesung, die Gino Leineweber, der Ehrenvorsitzende der Hamburger Autorenvereinigung, gleich machen wird. Er wird lesen aus „Die Bertinis“ von Ralph Giordano, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre. Auch ihm, dem ewigen Mahner, wollen wir heute gedenken.

Ihm, dem Sohn einer deutschen Jüdin, der früh die Schikanen der Nazis zu spüren bekam, mehrfach verhaftet und gefoltert wurde. Ihm, der von einem indoktrinierten, verblendeten Mitschüler zu hören bekam: „Ralle, mit dir spiel ich nicht mehr, du bist Jude“!  Ihm, der trotz allem in Deutschland geblieben ist, bleiben musste, da der Familie die Mittel zu einer Ausreise fehlten und der später den Plan einer Auswanderung aufgab, da er so sehr an der deutschen Sprache hing, dass sie neben seiner leiblichen Mutter auch zu einer Art Mutter wurde, wie er sagte. Ihm, der sich – wie mein Vater – verstecken musste, um zu überleben. Davon handelt der Text, den wir gleich von Gino Leineweber hören, ist doch „Die Bertinis“ ein in großen Teilen autobiografischer Roman.

Übrigens wird in Hamburg stets am 27. Januar der Bertini-Preis für junge Menschen mit Zivilcourage vergeben. Nach dem Motto:

Hinschauen, wenn andere wegsehen.
Sich einmischen, wenn andere schweigen.
Erinnern, wenn andere vergessen.
Eingreifen, wenn andere sich wegdrehen.
Unbequem sein, wenn andere sich anpassen.

Heute wird der Bertinipreis bereits zum 25. Mal verliehen. Er geht an die Theater-AG des Helmut-Schmidt-Gymnasiums in Wilhelmsburg, an Schülerinnen und Schüler des Emilie-Wüstenfeld-Gymnasiums in Eimsbüttel, eine queere Gruppe der Stadtteilschule Bergedorf und die Schülerin Katharina Taschinski aus Altona, die sich mit dem langen Weg des KZ Neuengamme zur Gedenkstätte auseinandergesetzt hat.

 

 

 

 

 

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